AUSSTELLUNGSERÖFFNUNG BEI „MOVE!“ -FABRIK HEEDER

DIE BEWEGUNG GREIFEN
Tanzfotografien von Karl Werner Maria Meyer, Köln

„Bewegung greifen“
eine Laudatio von Thomas Linden

Worin besteht die Erotik des Tanzes? In zwei Phänomenen, die auch essenzielle Bestandteile der Fotografie sind. Zum einen handelt es sich um die Zeit und zum anderen um die Geste. Die Geste ist eine Bewegung, die Bedeutung besitzt. Der Begriff der Geste leitet sich aus dem lat. Gesta ab und führt in seiner Verwendung zu zwei aufschlussreichen Wortbedeutungen, dem Erzählen und dem Nähren. Zwei Phänomene, die zusammen gehören. Mit dem Erzählen erklären wir uns die Welt, es enthält Bedeutung, die an uns weitergegeben wird. Bedeutung meint, dass eine Sache auch auf einer zweiten – zunächst nicht immer sichtbaren – Ebene für uns Relevanz besitzt. Deshalb sind Bewegungen auch nicht einfach so in der Welt, sondern sie sprechen zu uns. Sie sind gerichtet auf Begegnungen zwischen Menschen, und eine der zentralen Formen der Begegnung ist die zwischen zwei Menschen, die einander anziehen. Hier kommt etwas zusammen, und wo das geschieht, gibt es ein Vorher und ein Nachher.

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Die Zeit stellt den Raum bereit, in dem sich eine Szene entwickeln kann, die in ihrem Verlauf dann in die Zukunft führt. Mit einer Fotografie haben wir hingegen nur das Bild einer Situation in der Hand und fragen uns unwillkürlich, wie es dazu gekommen ist und was nach diesem dokumentierten Moment weiter geschehen wird. „Ein Foto ist ein Geheimnis über ein Geheimnis, je mehr es verrät, desto weniger weiß man“, behauptete die amerikanische Fotografin Diane Arbus. Wenn ich die Aufnahmen von Karl Werner Maria Meyer anschaue, die er von Choreographien gemacht hat, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, bin ich oft verwundert und denke: „Wie konnte er etwas bemerkt haben, das mir selbst nicht aufgefallen ist?“

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Gerade weil das Foto nicht die ganze Geschichte in ihrer Entwicklung und ihrem Fortgang enthält, beginnt sie uns zu elektrisieren. Nun könnte man sagen, das ist nichts Besonderes und trifft auf jedes Foto zu. Kein Kunststück, zumal im Zeitalter der Digitalisierung, in der das Bild nichts kostet, da es kein Material beansprucht und keiner Labor-Entwicklung bedarf. Tatsächlich habe ich schon Fotografen gesehen, die bei allem auf den Auslöser drückten, was sich auf der Bühne bewegte. Nur bemerkte ich dann bei der Betrachtung der unzähligen Aufnahmen, dass der entscheidende Moment nicht darunter war.

Werner Meyer gehört zu den Fotografen, die eine Szene zu „lesen“ verstehen. Die sie dramaturgisch begleiten und denen der Moment, auf den die Situation zu läuft, nicht entgeht. Dazu gehört Erfahrung und Intuition, letztere besitzt er in großem Maße, und das ist wahrlich nicht selbstverständlich. Es gibt Fotografen, die sind Jahrzehnte in diesem Gewerbe unterwegs und trotzdem bleibt ihnen die psychologische Unterströmung einer Situation verborgen.

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Bei Werner Meyer ist das anders, ihm sind die Intentionen der Choreographen nicht fremd, oftmals bringt er mit einer Fotografie eine getanzte Aktion erst auf den Punkt. So beschenkt er die Regie und die Tänzer und Tänzerinnen nicht selten mit Aufnahmen, in denen er das im Bild vollendet, was sie in ihrer Arbeit angelegt haben. Es handelt sich eben nicht um spektakuläre Schnappschüsse von fliegenden Körpern oder schweißglänzenden Muskeln. Vielmehr entstanden kleine Ikonen. Seine fotografischen Arbeiten zu den Produktionen von Sylvana Seddig oder Overhead Project sind derartig pointiert, das man manchmal in einem einzigen Bild von Werner Meyers die gesamte künstlerische Konzeption dieser Choreographien rekonstruieren kann.

Eine Tatsache, an der sich die grundsätzliche Bedeutung der Fotografie für den Tanz ermessen lässt. Monate, manchmal Jahre gehen während der Vorbereitung einer Produktion ins Land, die dann in einigen Aufführungen abgespielt ist. Was bleibt von ihr? Das Erlebnis für diejenigen, die sie gesehen haben. Das ist viel, aber zugleich verteufelt wenig, gerade wenn sie einem als Zuschauer unvergleichliche Momente geschenkt hat. Eine Fotografie belebt das, was wir er-innert haben. Denn in der Vergänglichkeit der Bewegung erfüllen sich das Schicksal und die Erotik des Tanzes.

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Für Werner Meyer stellt die Flüchtigkeit, die das Wesen der darstellenden Künste ausmacht, eine konkrete Herausforderung dar. Wobei der Tanz mehr handwerkliches Geschick, Fitness und Geistesgegenwart von ihm verlangt als das Theater. Tänzer bewegen sich schneller, komplexer und deshalb unberechenbarer als Schauspieler. Und der Tanz funktioniert anders als das Theater, dort erzählt sich die Geschichte des Stücks in den Gesichtern, beim Tanz übernimmt hingegen der Körper diesen Part. Das heißt aber nicht, dass dem Fotografen nicht die Gesichter und vor allem die Augen der Tänzer entgehen dürfen. Keine leichte Aufgabe, wenn – wie er mir erklärte – gerade eine Pirouette gedreht wird.

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Es ist ein faszinierendes Erlebnis, ihm bei der Arbeit zuzuschauen. Auf dicken Wollsocken bewegt er sich mit der Kamera im Anschlag zwischen den Tänzern, immer auf der Hut vor Kabeln und Scheinwerfern, die ihm den Weg versperren. Geballte Konzentration ergreift dann von ihm Besitz. Auch Mut gehört zu dieser Arbeit, nicht alleine weil sie körperlich anspruchsvoll ist, sondern weil man den Schneid aufbringen muss, den Körpern – die beim Tanz nicht selten unbekleidet sind – auf kurze Distanz zu begegnen. Dem Voyeurismus des Auges darf man sich nicht verwehren. Zugleich muss der Fotograf aber auch das gesamte Szenenbild im Blick behalten. Denn nur so gelingen Fotografien, die uns zeigen, dass der Tanz von Begegnungen der Körper erzählt, die mit nichts von dem vergleichbar sind, was wir dort draußen im Alltag erleben, und in denen wir trotzdem eigene Erfahrungen wiedererkennen. Es ist seine Kamera, die uns den Bildschatz der Tanzkunst bewahrt, die Momente aus dem Fluss der Bewegung greift, die so sprechend sind, dass sie mehr zu sagen haben, als es Tausende Worte vermögen, und uns deshalb die Einzigartigkeit des Tanzes im Reigen der Künste schmerzlich bewusst macht. Warum schmerzlich? Weil sie so fragil sind, dass man melancholisch werden könnte. Aber was heißt das schon, wir haben die Fotografien von Werner Meyer, sie zu betrachten, ist immer eine Freude.

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