Tanz der Qual
Überprätentiös und unterperformt: Samantha Shays Tanzfilm „Romance“ kann sich nicht entscheiden, ob er Fiktion sein will oder Dokumentation. Das Ergebnis ist ernüchternd.
Von: Harff-Peter Schönherr
Wer Literatur verfilmt, muss hoffen, dass der Kinobesucher die Vorlage nicht kennt. Kennt er sie, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Kameraaufnahme gegen das innere Bild unterliegt, das der Text bei ihm erzeugt hat. Kennt er sie, reagiert er oft mit Skepsis, wenn der Film Schauwerte erschafft, die dem Geschriebenen nicht entsprechen. Kennt er sie, verzeiht er es meist nicht, wenn der Film das Setting der Originalhandlung durch ein eigenes ersetzt. Kennt er sie, möchte er die volle Komplexität des Textes auf der Leinwand sehen, dessen Atmosphäre, Personarium und Plot. Für den Film ist das ein Risiko.
Regisseurin Samantha Shay muss das gewusst haben, als sie Miranda Julys Kurzgeschichte „It Was Romance“ als Vorlage für ihren Tanzfilm „Romance“ gewählt hat. Der ist mittlerweile von Festival zu Festival getourt, mit Erfolg. Aber das heißt nicht, dass die knapp 40 Minuten, in denen Shay July als Steinbruch benutzt, Sinn ergeben.
Sicher, Shay erzählt in groben Zügen an Julys betont anonymem „place of overflowing collaborative misery“ entlang, am Verlauf der beklemmenden, absurden Selbsterfahrungssitzung, zu der July an einem Sonnabendmorgen 40 Frauen zusammenkommen lässt, „to become more romantic“.
Aber Shay verlagert Julys Geschehen in die „Lichtburg“, ein ehemaliges, mittlerweile ziemlich betagtes Kino, das legendäre Probenstudio von Pina Bauschs Tanztheater Wuppertal. Mitglieder des Ensembles sind hier ihre Darsteller, von Emily Castelli bis Julie Shanahan, von Taylor Drury bis Julie Anne Stanzak. Und es wird getanzt, exzessiv. Mit July hat das nichts zu tun.
Shay bedient sich manchen Bildes, das July entwirft. Die Teilnehmerinnen tragen auch bei ihr anfangs kurz Tücher vor den Augen, um ihre Introspektion zu fördern. Eine Instruktorin (Julie Anne Stanzak) tritt auf, die wie ein Army Drill Sergeant wirkt. Es ist dunkel im Raum. In der Pause werden Sandwiches gegessen. Hände krampfen sich um die eigenen Knöchel, als seien es die eines anderen Menschen, und dann läuft man los als sei man ein anderer, jemand den man liebt, der zu entkommen versucht.
Aber oft ist ihr Julys klare, harte, realistische Nüchternheit nicht genug. Also übersteigert sie. Bei July geht es am Ende darum, vor dem Gehen die Stühle aufeinander zu stapeln; bei Shay schlägt jemand vor, sie zu verbrennen. Zudem konstruiert Shay Surrealismen: Jemand steht angekleidet unter der Dusche und spricht in einen Duschkopf? Jemand steht vor leeren Stuhlreihen und spricht mit imaginären Zuhörern? Julys Vorlage spielt in solchen Augenblicken keine Rolle.
Shay will es extrem. Sie setzt eigene Bilder hinzu, auch eigenen Text, oft, umfänglich, wie auch ihre Akteure, greift auf Motive aus Choreografien von Pina Bausch zurück. Und immer dreht es sich bei ihr um den Tanz: „You got to dance with your soul!“, ist dringlich zu hören, als habe das jemand bezweifelt.
Sicher, es geht Shay, wie July, um innere Zerrissenheiten und Ängste, um Einsamkeit und Sinnsuche, um Selbstzweifel und die Angst vor dem Bedeutungsverlust. Aber wie sie das erzählt, rechtfertigt nicht, dass sie die US-amerikanische Multimediakünstlerin, Filmregisseurin wie sie selbst, prominent für sich vereinnahmt.
Ein silbernes Delphinfeuerzeug kommt bei ihr ins Spiel, das lange nicht angeht. Zeremoniell-symbolistisch wird Geschirr zerschlagen. Auf einem Tisch werden Granatäpfel zerteilt wie Tierleiber, was ein Schlachtfeld hinterlässt. Alles das ist bei July nicht zu finden.
Gleich zu Beginn, nach einer zusammenhanglosen, zweieinhalb Minuten langen Vortitel-Tanzsequenz, sehen wir eine ältere Frau (Julie Shanahan). Sie lehnt sich gegen die Wand, tritt gegen einen Stuhl. Sagt, zu wem auch immer: „You actually don’t belong here. I mean it! You have to go! It’s not okay that you’re here.“ Streicht mit der Hand über die Wand, nennt dabei den Ort bei seinem Realnamen: Lichtburg. Reißt ein Fenster auf und schreit, warum auch immer, auf die Straße: „You’re not listening!“
Dann beginnt sie zu rauchen. „Actually, I don’t smoke“, sagt sie dabei. „You don’t believe me, right? I don’t smoke! I actually hate it. I only do it for the stage!“ Richtung Kamera sagt sie: „Don’t you dare look at me like that!“ Sie weint. Zeigt, dass das geschauspielert ist. Sagt, dass man keine gute Schauspielerin sei, nur weil man weinen kann. Schüttet Kaffee auf den Boden. Er sei so alt und kalt, dass auch er „on the ground“ sei. Sie kniet sich hin, wischt auf, ohne aufzuwischen. „It is so, so sad.“ Dann bedankt sie sich, bei wem auch immer, dafür, dass er gekommen ist: „I really appreciate it!“ Auch vom Tod ist die Rede. Danach lacht sie. Was hier traurig ist? Was das alles soll? Nichts erschließt sich. Mit July hat es jedenfalls nichts zu tun.
Von Szene zu Szene wird rätselhafter, warum Shay überhaupt auf July zurückgreift. Julys Kurzgeschichte ist klare Fiktion. Aber was erleben wir in „Romance“?
Fiktion ist es nicht. Manches wirkt zwar wie eine Spielhandlung. Aber wir sehen die Filmcrew mit ihrer 16-mm-Kamera, wir sehen die Tonangel, die Synchronklappe, und zwischendrin ruft jemand: „Cut!“. Das deutet auf eine Dokumentation hin. Obwohl eigentlich auch das nicht sein kann, denn dann wäre sie entweder unfassbar schlampig geschnitten oder sehr selbstverliebt.
Eine Filmdokumentation, die Beobachtung einer realen Ensemblesituation des Tanztheaters Wuppertal, kann es, auch wenn viel getanzt wird, auch schon deshalb nicht sein, weil es im Kern nicht um den Tanz geht, sondern um die Zuschaustellung allseitiger psychischer Deformation. Das deutet, sollte in der Tat etwas Reales abgebildet sein, allenfalls auf Biografie-Arbeit hin.
Aber Biografie-Arbeit ist „Romance“ nicht. Dazu wird zu umfänglich Julys Text performt, sind die Akteure zu oft Figuren statt Personen. Außerdem würde eine derartige kollektive Verzweiflung, wäre sie auch nur ansatzweise real, nahelegen, dass in der Wuppertaler Compagnie unhaltbare Zustände herrschen.
Nichts von alledem also. Was uns gegenübertritt, ist eine äußerst diffuse Hommage an den Tanz, die alles ist und deshalb nichts. Ob sich die Wuppertaler Tänzerinnen, die sich Shay zur Verfügung gestellt haben, dadurch einen Gefallen tun, ist fraglich.
Die wohl verstörendste Szene von „Romance“ ist die, in der Naomi Brito (insgesamt: zu überzogen), die erste Transgender-Tänzerin des Ensembles, preisgibt, dass sie im Alter von 5 Jahren vergewaltigt wurde, fast jeden Tag. Halb klingt das authentisch, denn sie spricht dabei zu einer „Sam“, die off camera auch antwortet, zu einer „Samantha“, und das sieht nach Regisseurin Shay aus, ist also keine Rolle. Zugleich wirkt ihr Erzählen jedoch so überartifiziell, so inszeniert, dass Brito sich hier sicher nichts spontan von der Seele redet. Ist sie hier sie selbst? Spielt sie eine Rolle? Man weiß es nicht. Das ist nicht produktiv.
Besonders irritierend ist, dass Brito, quasi die Hauptrolle des Films, sich in dieser Szene bei „Sam“ bedankt, für was auch immer. Tut sie es aus eigenem Antrieb? Ist es Teil ihrer Rolle? In beiden Fällen konstruiert Shay hier ein Eigenlob, indem sie es zeigt.
Was July erzählt, ist glasklar. Was Shay erzählt, bleibt rätselhaft. Und „Romance“ ist kein Rätsel, das zu lösen Spaß macht. Mehr als ein ernüchtertes Kopfschütteln bleibt am Ende nicht.
Auch technisch macht „Romance“ vieles falsch. Oft wird so leise gesprochen, dass nichts zu verstehen ist. Manchmal wird, was von der Grundsprache Englisch abweicht, untertitelt, manchmal nicht. Meist wird das Englische nicht in Englisch untertitelt, manchmal aber schon. Zuweilen kommt das Voice-Over gegen die Lautstärke der Musik nicht an; bessere Abmischung hätte hier gutgetan. Zuweilen fehlt der Ton sekundenkurz ganz. Zuweilen reden auch zwei Personen gleichzeitig, in zwei Sprachen, plus Musik. Heikel.
Das größte Problem aber ist die Kameraführung. Ja, auch andere Literaturverfilmungen setzen auf unruhige Handkamera-Einstellungen. Die Reihe um den mysteriösen Agenten Jason Bourne zum Beispiel, die mit der Vorlage von Robert Ludlum ebenfalls ziemlich frei umgeht. Aber die Kamera-Arbeit bei Bourne ist durchdacht dosiert, bei „Romance“ wirkt das Gewackel einfach nur nervig. Wichtiges gerät dabei aus dem Bildfeld, Unwichtiges und Störendes gerät hinein. Mal um Mal blicken wir zudem in Unschärfe, und oft wirkt sie nicht wie Absicht.
Sicher, manche Regie-Idee ist gut. So scheint es, als werde dieselbe Rolle erst von einer alten, dann von einer jungen Darstellerin gespielt. Und Darsteller nehmen Gesten anderer Darsteller auf. Aber dieser Hintersinn verpufft. Zu sehr ist der Rezipient damit beschäftigt, zu entschlüsseln, warum die Figur Theresa aus Julys Kurzgeschichte bei Shay plötzlich so heißt wie ihre Wuppertaler Darstellerin. Oder warum „Sam“, die Regisseurin, von Brito mit der Instruktorin gleichgesetzt wird, die ja eine Rolle ist. Oder warum zuweilen keine Filmbilder zu sehen sind, sondern nur Farbflächen. Oder warum Julys Inhalte erst ab Minute 8 vorkommen, und auch dann nur sporadisch.
Der Film ist kurz, wirkt aber endlos. Minute um Minute verrinnt mit kryptischem Gerede. Minute um Minute verrinnt mit Tanz, der die wirre Geschichte noch wirrer macht. Geht es dem Film darum, viele Menschen zu erreichen, versagt er. Zielt er auf Special-Interest-Connaisseure, die es masochistisch lieben, möglichst hohen Hemmschwellen zu begegnen, die Unzugänglichkeit als Ausweis besonders hoher Kunsthaftigkeit goutieren, besonders großer Bedeutungstiefe, macht er einen exzellenten Job.
Gegen Ende sagt jemand, sehr häufig: „Mistake!“ Ja, Fehler macht „Romance“ fürwahr. Besser also, sich stattdessen mit Miranda Julys Kurzgeschichtensammlung „No one belongs here more than you“ zu beschäftigen; sie ist eine der Requisiten des Films. Im Abspann ist July unter „Texte“ übrigens nur eine von acht Autorinnen. Das trifft es.